Wenn Menschen zusammenkommen, um Ideen zu entwickeln, über Strategien zu sprechen oder gemeinsam Entscheidungen zu treffen, entsteht viel Inhalt in kurzer Zeit. Klassische Protokolle in Textform haben zwar ihre Berechtigung, doch sie wirken oft trocken und laden nicht unbedingt dazu ein, nach der Sitzung noch einmal darin zu blättern. Ganz anders verhält es sich mit einem grafischen Protokoll, auch bekannt als Graphic Recording. Dabei begleitet ein Zeichner oder eine Zeichnerin live die Veranstaltung, übersetzt Gesagtes in eine große, visuelle Darstellung und macht Gedanken auf einen Blick erfassbar.
Die Wurzeln des Graphic Recordings reichen zurück in die 1970er Jahre, vor allem in die USA. Damals begannen Organisationsentwickler und Designer wie David Sibbet damit, Meetings mit Hilfe von Wandtafeln, Symbolen und einfachen Zeichnungen zu strukturieren. Ihr Ziel war es, komplexe Inhalte greifbarer zu machen und Gruppenprozesse zu unterstützen.
Dieses Vorgehen entwickelte sich aus der sogenannten Visual Facilitation, also der visuellen Moderation. Dabei wird nicht nur protokolliert, sondern auch aktiv durch Bilder gelenkt und unterstützt, um Gruppen schneller zu gemeinsamen Erkenntnissen zu bringen. Aus dieser Bewegung entstand das, was wir heute als Graphic Recording kennen: das zeichnerische Mitschreiben in Echtzeit, ohne dass die Bilder selbst das Gespräch steuern.
Mit dem Aufkommen agiler Methoden und kreativer Innovationsprozesse – Stichwort Design Thinking – gewann das visuelle Arbeiten in den letzten zwei Jahrzehnten noch stärker an Bedeutung. Bilder helfen, abstrakte Ideen zu konkretisieren, und sie bleiben länger im Gedächtnis.
Die Vorteile liegen auf der Hand:
Bessere Verständlichkeit
Ein Bild sagt bekanntlich mehr als tausend Worte. Indem Inhalte visualisiert werden, können auch komplexe Sachverhalte leichter verstanden und eingeordnet werden. Besonders bei heterogenen Gruppen oder bei Themen, die sich schwer allein durch Sprache greifen lassen, ist das ein großer Gewinn.
Stärkeres Erinnern
Menschen behalten visuelle Eindrücke deutlich länger im Gedächtnis als reine Textinformationen. Ein grafisches Protokoll wird oft noch Monate nach einem Workshop angeschaut und erinnert die Beteiligten sofort an den Kern des Gesagten.
Motivation und Beteiligung
Während ein Graphic Recorder zeichnet, können die Teilnehmenden live mitverfolgen, wie ihre eigenen Beiträge Gestalt annehmen. Das sorgt für Wertschätzung und macht den Prozess lebendiger. Viele fühlen sich dadurch stärker eingebunden.
Übersichtlichkeit
Statt langer Seiten mit Text entsteht eine große „Landkarte“ des Gesprächs. Zusammenhänge werden sichtbar, Hierarchien und Prioritäten lassen sich schnell erfassen.
Nachhaltige Kommunikation
Das fertige Bild kann fotografiert, digitalisiert und für interne oder externe Kommunikation weiterverwendet werden. Unternehmen nutzen es gerne in Präsentationen, Jahresberichten oder Social Media.
Inzwischen hat sich Graphic Recording weit über die USA hinaus verbreitet. In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist es seit den frühen 2000er-Jahren in Workshops, Konferenzen und Unternehmensveranstaltungen etabliert. Besonders in Innovations- und Transformationsprojekten, in der Politikberatung und in der Bildung ist es beliebt.
Viele große Organisationen – von Konzernen bis hin zu NGOs – setzen heute auf visuelle Protokolle, wenn es um komplexe Themen oder große Gruppen geht. Internationale Konferenzen arbeiten oft mit mehreren Recordern gleichzeitig, die live an Wänden oder digitalen Tablets zeichnen.
Ein weiterer Schub kam durch die Corona-Pandemie: Online-Workshops brauchten neue Formen der Dokumentation. Graphic Recorder begannen, mit Tablets direkt auf dem Bildschirm zu arbeiten und die Ergebnisse digital einzuspielen. Heute sind hybride Formate selbstverständlich: Mal wird vor Ort an riesigen Papierbahnen gezeichnet, mal gleich digital auf iPad oder Graphic Tablet.
Viele fragen sich: Muss man eine Künstlerin sein, um Graphic Recorder zu werden? Die klare Antwort lautet: Nein. Natürlich hilft ein gewisses Zeichentalent, doch die Technik lebt nicht von Kunstfertigkeit, sondern von Klarheit, Reduktion und Struktur.
Sketchnoting üben
Der Einstieg gelingt über Sketchnotes – kleine, kombinierte Notizen aus Text, Symbolen und einfachen Figuren. Diese Methode ist leicht im Alltag zu trainieren, etwa bei Vorträgen oder beim Mitschreiben von Podcasts.
Visuelles Vokabular aufbauen
Recorder nutzen ein Repertoire aus Symbolen, Piktogrammen und Figuren, die sie immer wieder einsetzen. Häuser für Organisation, Glühbirnen für Ideen, Menschen-Icons für Rollen – solche Symbole lassen sich schrittweise aneignen.
Schrift und Layout trainieren
Gute Lesbarkeit ist wichtiger als kunstvolles Malen. Recorder üben klare Druckschrift, das Arbeiten mit Hierarchien (Überschriften, Unterpunkte) und den Einsatz von Pfeilen oder Containern, um Inhalte zu strukturieren.
Wer tiefer einsteigen will, findet inzwischen zahlreiche Angebote:
Workshops bei spezialisierten Trainern oder Agenturen
Online-Kurse mit Videos und Übungsaufgaben
Fachliteratur zu Visual Facilitation, Sketchnoting und Graphic Recording
Communities und Netzwerke, in denen man sich austauschen und gegenseitig inspirieren kann
Einige Hochschulen und Weiterbildungsinstitute bieten sogar Module oder Zertifikatskurse im Bereich visuelles Arbeiten an.
Am wichtigsten ist jedoch die Praxis. Graphic Recorder müssen zuhören, filtern, strukturieren und gleichzeitig zeichnen. Diese Kombination erfordert Übung. Mit kleineren Anlässen – etwa Team-Meetings oder Freundeskreisen – kann man starten und sich Schritt für Schritt steigern.
Natürlich gibt es auch Grenzen und Stolpersteine:
Nicht jeder Teilnehmende fühlt sich sofort wohl damit, wenn jemand „mitzeichnet“. Hier braucht es Sensibilität.
Ein Recorder kann nicht jedes Detail aufnehmen, sondern muss verdichten und auswählen. Das verlangt Fingerspitzengefühl.
Für große Gruppen und komplexe Themen braucht es Erfahrung, damit die Übersicht nicht verloren geht.
Trotzdem überwiegen die Vorteile. Und mit wachsender Bekanntheit wird Graphic Recording zunehmend selbstverständlich als Ergänzung zu klassischen Protokollen eingesetzt.
Graphic Recording ist weit mehr als ein „schönes Bild“. Es ist ein hochwirksames Werkzeug, um Kommunikation zu unterstützen, Inhalte sichtbar zu machen und nachhaltige Wirkung zu erzielen. Was in den 1970er-Jahren in den USA begann, ist heute ein weltweites Phänomen und ein fester Bestandteil moderner Arbeits- und Lernkultur.
Ob in Unternehmen, Organisationen oder Bildungseinrichtungen – visuelle Protokolle helfen, Informationen lebendig zu halten und Menschen zu verbinden. Und das Beste: Jeder kann die Grundlagen lernen. Mit ein wenig Übung und Neugier wird aus dem trockenen Protokoll ein inspirierendes Bild, das Lust macht, sich immer wieder daran zu erinnern.
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